Die Fahrt zur Kindertagesstätte fühlte sich für Mia wie ein Gang zum Schafott an. Als ihre Mutter den Wagen auf dem winzigen Parkplatz des "Kindergartens Sonnenschein" abstellte, sank Mia tiefer in den Sitz. Die kleinen, bunten Fensterrahmen und die überdimensionale hölzerne Giraffe am Eingang schrien förmlich "Vorschulalter!".
Mias Mutter drückte ihr einen schnellen, ermutigenden Kuss auf die Wange. "Kopf hoch, Schatz. Nur ein paar Stunden, dann hol' ich dich ab."
Sie gingen hinein. Der warme, leicht süßliche Geruch von Spielzeug, Essen und Windeln schlug Mia entgegen. An der Rezeption, einem bunten Tresen, der niedriger war als in jedem Büro, erwartete sie eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters, die gerade Stempel sortierte.
"Guten Morgen, Frau Lehmann", begrüßte Mias Mutter die Mitarbeiterin. "Das ist meine Mia. Frau Gruber hat Ihnen Bescheid gesagt, nehme ich an?"
Die Mitarbeiterin, Frau Lehmann, blickte auf Mia, und ihr professionelles Lächeln fror für einen Sekundenbruchteil ein. Mia war mindestens einen Kopf größer als Frau Lehmann.
"Ja, natürlich! Frau Gruber hat angerufen. Ein Notfall bei Ihnen, und ein... äh... ungewöhnlicher Vormittag für die junge Dame", sagte Frau Lehmann, wobei sie Mia musterte. "Kein Problem, wir finden ein Eckchen für sie."
Sie schob Mia ein Klemmbrett mit einem Anmeldeformular hin. "Nur ein paar Formalitäten, Frau Schmidt. Standardfragen, die wir aus versicherungstechnischen Gründen brauchen, auch bei einem kurzen Aufenthalt."
Mias Mutter nickte und füllte die Felder schnell aus. Dann stockte sie. Frau Lehmann deutete mit dem Kugelschreiber auf eine Zeile:
"Und dann noch kurz zum Entwicklungsstand... Bei der Sauberkeitserziehung: Alles im grünen Bereich, nehme ich an?" Sie lächelte Mia freundlich an, als wäre Mia maximal sieben.
Mias Mutter zögerte. Sie blickte kurz auf Mia, die sofort wieder auf den Boden starrte, ihre Wangen glühend rot.
"Nun...", begann Mias Mutter leise, beugte sich etwas vor und senkte die Stimme, aber nicht so tief, dass Mia es nicht hören konnte. "Eigentlich ja. Aber... wir hatten heute Morgen einen kleinen Unfall. Deshalb ist Mia ja auch nicht in der Schule."
Frau Lehmanns professionelles Lächeln verschwand gänzlich. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie zwischen der Mutter und der hochgewachsenen Mia hin und her blickte. Die Tatsache, dass ein Teenager in einer Kindertagesstätte angemeldet wurde, weil sie ins Bett gemacht hatte, war offensichtlich ein Novum.
"Ach so... Verstehe", sagte Frau Lehmann und nickte rasch, um ihre Überraschung zu verbergen. "Das ist natürlich... ärgerlich. Aber das kann vorkommen, keine Sorge." Sie machte eine diskrete Notiz auf dem Formular.
Mia fühlte sich, als würde sie schmelzen. Die letzte Stufe der Demütigung war erreicht.
"Gut, dann ist alles erledigt. Herzlich willkommen, Mia", sagte Frau Lehmann und lächelte wieder. "Ich bringe dich jetzt in den 'Bauklotz-Raum'. Die größeren Kinder malen dort schon."
Mias Mutter umarmte sie schnell und fest. "Ich bin spätestens um eins wieder da, versprochen, ja? Mach's gut, Mami muss jetzt los."
Mia drückte ihre Mutter hilflos. Sie spürte, wie das Wort "Mami" erneut in ihrer Panik aufstieg, aber sie zwang sich, es zu unterdrücken, und nickte nur stumm.
Als ihre Mutter aus der Tür verschwunden war, drehte sich Frau Lehmann um. "Na komm, Mia. Wir stellen dich der Gruppe vor." Sie legte Mia eine Hand auf den Rücken und führte sie einen Gang entlang, dessen Wände mit Zeichnungen von Tieren in Wachsmalkreide geschmückt waren – in den Raum voller Fünfjähriger.
Mia ließ sich von Frau Lehmann in den Gruppenraum schieben. Es war ein großer, heller Raum, gefüllt mit dem gedämpften Lärm von Bauklötzen und Kinderstimmen. Ungefähr zehn Kinder, die meisten nicht älter als fünf oder sechs, waren an einem Tisch versammelt und malten mit dicken Filzstiften.
"Guten Morgen, ihr Lieben! Das ist Mia", sagte Frau Lehmann, und die Kinder hoben kurz ihre Köpfe, bevor sie wieder ihren Malereien widmeten. "Mia, sieh dich ruhig ein bisschen um, mach es dir gemütlich. Frau Schulz hier ist heute deine Bezugsperson."
Sie deutete auf eine junge, sehr warmherzig wirkende Erzieherin mit einem strahlenden Lächeln, die gerade einem kleinen Jungen half, sein Spiderman-Bild mit Glitzer zu verzieren. Mia nickte kurz in die Runde und zog sich sofort an die nächstgelegene Wand zurück.
Frau Lehmann blieb nicht lange. Sie ging leise zu Frau Schulz hinüber, die sich bückte, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu sein. Mia konnte sehen, wie die beiden Frauen leise miteinander sprachen.
Obwohl Mia kein Wort verstehen konnte – ihre Stimmen waren zu gedämpft, und der Geräuschpegel im Raum war zu hoch – war Mia absolut sicher, dass Frau Lehmann gerade alles über die peinliche Anmeldesituation erzählte. Sie sah, wie Frau Lehmann kurz zur Tür nickte, wo Mias Mutter zuvor gestanden hatte, und dann Frau Schulz einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, der unmissverständlich 'Bettnässen' oder zumindest 'große Probleme' bedeutete.
Frau Schulz nickte nachdenklich, ihr Lächeln verschwand für einen Moment. Sie schaute über die Schulter zu Mia, die so tat, als würde sie die bemalten Fingerabdrücke an der Wand studieren. Mia spürte, wie ihr Gesicht erneut glühte. Die Information war nun in der Gruppe angekommen. Sie war jetzt die vierzehnjährige Bettnässerin im Kindergarten.
Nachdem Frau Lehmann den Raum verlassen hatte, ließ Frau Schulz Mia noch ein paar Minuten Zeit, um sich zu akklimatisieren. Sie beendete geduldig ihre Interaktion mit dem Jungen und räumte die Glitzerflaschen beiseite.
Dann stand sie auf und kam langsam auf Mia zu. Ihre Schritte waren leicht und vorsichtig, nicht aufdringlich, aber bestimmt.
"Hallo, Mia", sagte Frau Schulz sanft, als sie etwa zwei Meter entfernt stehen blieb. Ihre Stimme war freundlich und klang weder verurteilend noch überrascht. "Ich bin Frau Schulz. Freut mich, dich heute bei uns zu haben. Ich weiß, das ist eine ungewöhnliche Situation für dich."
Sie machte eine kleine Pause, um Mia eine Chance zum Antworten zu geben, aber Mia presste nur die Lippen zusammen und nickte.
"Hör zu, Mia", fuhr Frau Schulz fort, trat einen halben Schritt näher und lächelte. "Ich habe gehört, dass du heute Morgen einen schweren Schreck hattest. Das ist wirklich doof, aber ich verspreche dir, das ist hier unser kleines Geheimnis. Und das Wichtigste ist: Du bist hier sicher."
Sie machte eine Geste zur Tür, die signalisierte, dass sie aus dem Raum gehen sollten. "Magst du vielleicht mit mir in die Kuschelecke kommen? Ich würde dich gerne ein bisschen besser kennenlernen. Du bist ja schon ein großes Mädchen, und ich bin sicher, du kannst mir eine Menge über deine Hobbys erzählen."
Mia war überrumpelt von dieser direkten, aber diskreten Art, mit der Situation umzugehen. Sie konnte sich nicht wehren. Sie nickte steif.
"Klasse", sagte Frau Schulz und legte ihr die Hand nicht auf den Rücken, sondern deutete nur mit einer offenen Geste an, dass Mia ihr folgen sollte. "Komm, erzähl mir doch mal, was dein Lieblingsfach in der Schule ist."
Mia folgte ihr in eine kleine, gemütliche Ecke mit großen Kissen und einem Bücherregal, unfähig, etwas anderes zu tun, als der Stimme zu folgen, die sie so freundlich und behutsam behandelte.