Gegen 2 Uhr nachmittags wurde Anja von O-Ren geweckt. Amara und Sarah schliefen noch, letztere hielt immer noch den ebenfalls seelig schlummernden Juan in der Hand. Ihre langen Finger umschlossen ihn wie ein Kokon.
"Aus den Federn, Schlafmütze. Zeit für den letzten Test."
Während der Fahrt zur Lagerhalle sagte O-Ren irgendwann:
"Das was gestern passiert ist, dein Ausrutscher, ist an sich ganz normal. Die Macht kann sich jederzeit deiner bemächtigen, wenn du die Chancen einer Pressung siehst. Dies ist mit ein Grund, warum wir bei der allerersten Pressung stets einen Unschuldigen zertreten lassen, damit die moralische Hemmschwelle eine größere ist."
"Hat ja prima funktioniert", gähnte Anja. Wobei sie ahnte, dass O-Ren recht hatte. Hätte sie nicht urplötzlich in ihrem Kopf Kais Stimme gehört...
"Und aus genau diesem Grund musst du noch eine wichtige Prüfung bestehen. Die Prüfung der Enthaltsamkeit. Egal, was passiert, du darfst heute nicht pressen!"
"Soll das heißen, wir gehen in die Halle, damit ich einen Haufen Krabbeltierchen NICHT breitstampfe? Keine Sorge, ich kann mich beherrschen. Prüfung bestanden!"
In O-Rens Augen blitzte etwas.
"Warten wir's ab."
In der Lagerhalle angekommen wollte sich Anja wieder ihrer Jeans entledigen und in Trainingsklamotten schlüpfen, wurde aber von O-Ren zurückgehalten.
"Nicht nötig. Zieh einfach deine Flip Flops aus."
Nachdem sie sich wieder auf der Trainingsfläche eingefunden hatten, die immer noch übersäht war von den Spuren von Anjas Plattmachaktion zwei Tage zuvor, griff O-Ren in ihre Tasche, um wie damals wieder ihre Zigarettenschachtel herauszuholen.
Anja ahnte, worauf das hinauslaufen würde. Und richtig, wieder plumpste ein völlig entblößter Mann zu Boden, der diesmal jedoch in voller Panik das Weite suchen wollte. Blitzschnell schnappte O-Ren den Flüchtigen mit ihrer linken Hand und hielt ihn direkt vor's Gesicht.
"Hör zu, du Wanze. Noch so eine Aktion, und ich benutze dich als Po-Ritzen-Puffer. Was spätestens dann extrem schmerzhaft und tödlich für dich sein wird, wenn ich das Verlangen bekommen sollte, mich zu setzen, verstanden?"
Der komplett geschockte Winzling wurde wieder auf den Boden gelegt.
"Leg dich auf den Rücken, du Wurm! Arme und Beine ausgestreckt!"
Der kleine Mann tat wie geheißen.
O-Ren grinste teuflisch.
"Ich darf euch miteinander bekannt machen. Anja, das ist dein zukünftiger Krümel am Fuß. Krümel am Fuß, das ist Anja. Anja wird gleich einen Schritt nach vorne machen. Direkt auf dich drauf. Und dich damit unter ihr zerquetschen. Schööön langsam. Und es wird ihr gar nichts ausmachen! Im Gegenteil. Ihr bloßer Fuß freut sich über die Massage, die du ihr bereitest, während sie dich breittritt! Nicht wahr, Anja?"
Anja wusste nicht, was sie mehr erregte. Dieser kleine, hilflose Winzling zu ihren Füßen oder die scheinbar völlig enthemmte O-Ren, die ihm Angst machte. 'Oh, wie gerne würde ich ihn zerdrücken!' dachte sie. Und im nächsten Augenblick: 'Verdammt, reiß dich zusammen!'
"Nein, nicht wahr. Ich kenne die Regeln, und die besagen: hole dir Infos aus erster Hand."
"Oh, ja, Infos aus erster Hand! Was meinst du, du Wurm, sollen wir Anja Infos aus erster Hand geben?" Und mit diesen Worten holte sie dieselbe Kugel aus der Tasche, die Amara damals in Marokko eingesetzt hatte, um Kais Vergehen zu zeigen.
"Sieh genau hin!" sagte sie zu Anja.
Und Anja sah Scheußliches. Abgetrennte Gliedmaßen. Blut. Schreiende Menschen, in die wiederholt das Fleischermesser eindrang.
"Bastard." flüsterte sie.
Dann sah sie wieder auf den Winzling. Trat mit der Ferse neben ihn. Ließ ihren kompletten restlichen Fuß auf ihn herabsinken.
Zögerte. 'Wenn du ihn jetzt zerquetschst, wirst du nie wieder die Gelegenheit zu Pressung bekommen. Und wir wollen noch viel mehr Menschen unter uns begraben als diesen einen Abschaum!'.
Hob ihn wieder hoch.
"Nein."
O-Ren lächelte.
Dann hob sie ihren linken Fuß, zog den Flip Flop aus und zertrat barfüßig den bis zuletzt schreienden Winzling.
"Ooch, das ist unfair. Warum darfst du und ich nicht?" sagte Anja und zog eine Schnute.
"Weil ich länger dabei bin." grinste O-Ren.
"Glückwunsch. Du hast den mit Abstand schwierigsten Test bestanden!"
"Danke. Soll ich dir helfen, den Dreck von der Sohle zu kratzen?"
"Nein, danke. Ich laufe ihn mir noch ein bisschen breit. Ich mag meine Trophäen gerne superplatt, musst du wissen!" Anja lachte.
Ihre ausgelassene Stimmung schwand, als sie im Apartment ankamen und Amara ihnen an der Tür entgegen kam.
"Schlechte Nachrichten!" sagte sie.
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